Wie wir oben sehen, stand die Schaffung und Weiterentwicklung der Volksschule von Anfang an im Dienste der Alphabetisierung der ungebildeten Schichten – damals Bauern und Arbeiterfamilien – und dem Zugang zu einer guten Allgemeinbildung für die ganze Bevölkerung. Erst mit der Einführung der Absenzenordnung im 19. Jahrhundert schafften es die Schulpflegen wirklich, die weit verbreitete Kinderarbeit in Fabriken und Bauernbetrieben zu unterbinden.
Wenn wir uns heute wieder damit beschäftigen, ob und wie eine Chancengleichheit in Schule und Ausbildung umgesetzt werden soll, knüpfen wir am Grundgedanken der Volksschule an. Dabei ist es gut, wenn bestehende Probleme angesprochen werden:
Dass Kinder aus bildungsfernen Schichten weder zu Hause noch in der Schule gleich gut gefördert werden wie Kinder aus wohlhabenderen Schichten
Dass Kinder, die eine andere Sprache als Mundart und/oder Deutsch zu Hause sprechen, mit einem Verzug im sprachlichen Bereich starten, das sich bis Ende der obligatorischen Schulzeit kaum aufholen lässt.
Dass Knaben in der Schule generell weniger erfolgreich sind und mehr Mädchen als Knaben ans Gymnasium übertreten und die Matur machen.
Nur wenn die Probleme angesprochen werden, können Lösungsansätze erarbeitet werden. Dabei braucht es sowohl Weitsicht wie auch ein vernetztes Denken, damit lösungsorientierte Ansätze im Schulalltag auch wirklich umgesetzt und von allen Beteiligten – wie Schulleitungen, Lehrpersonen, Therapeutinnen, Kindern und Eltern – zum Wohle des Kindes umgesetzt werden.
All die Teilbereiche, die oft salopp unter der Bezeichnung „Schulreform“ laufen, tragen dazu bei, dass die Chancengerechtigkeit Schritt für Schritt gelebt, umgesetzt und nicht nur gepredigt wird. Grundstufe, Kantonalisierung des Kindergartens, Deutsch als Zweitsprache, integrierte Förderung, integrierte Sonderschulung, Begabtenförderung, PFADE, QUIMS und wie die Projekte alle heissen: sie sind nicht da, um die Angestellten des Bildungsbereiches zu nerven und zu quälen, sondern allen Kinder reelle Chancen zu geben, sich entsprechend ihren Ressourcen und Stärken zu entwickeln. Seit es die Volksschule gibt, balgen sich fortschrittliche und konservative Kräfte darum, wie die ideale Schule auszusehen hat. Diese Diskussion soll und darf geführt werden, aber nicht auf Kosten des Schulbetriebes selbst oder gar der Schulkinder.
Die Schuleineinheiten haben jetzt die anspruchsvolle Arbeit, all die an die herangetragenen Ansprüche und Aufträge professionell umzusetzen, ihre Ressourcen geschickt einzusetzen und gleichzeitig eine innovative, qualitativ hoch stehende Schule zu sein. Diese Arbeit ist nur in einem Team möglich, in dem Vertrauen und Zuversicht herrscht und das von einer guten Schulleitung geführt und gefordert wird. Wenn ich auf meine fünfjährige Tätigkeit als Schulpflegerin zurückschaue, dann waren die besten Momente in den Schulen stets die unaufgeregten und alltäglichen: In einer Turnstunde der 3. Sek., wo Lehrer und Schüler derart ins Fussball Spielen vertieft waren, dass ich mich an einem Meisterschaftsmatch wähnte; in einer Grundstufenklasse, in der die fünf- bis siebenjährigen Kinder in kleinen Gruppen ruhig und vertieft Buchstaben lernten und die Grösseren bereits eigenen Geschichten schrieben; in einer Mathestunde, in der die Schnellen einem «Turboteam» zugeteilt wurden, in dem sie in ihrem eigenen Tempo an Arbeitsblättern vorwärts arbeiten konnten, während der Rest der Klasse mit dem Lehrer die Aufgaben im Mathebuch löste.
Das Ziel der Volksschule IST mehr Chancengerechtigkeit – und es ist ein Werk, das im Entstehen begriffen ist: denn die Schule kann nicht gerechter sein, als die Gesellschaft, in der sie existiert. Darum dürfen wir nicht stehen bleiben oder uns gar nach den «guten alten Zeiten» sehnen, denn die gab es nicht wirklich (siehe oben).
(* Daten aus: Handbuch für Zürcher Schulbehörden, Zürich 2006)