Später delegierte man mit den Sozialwerken die Bedarfsgerechtigkeit an den Staat. Niemand sollte Hunger leiden und alle ein Dach über dem Kopf haben. Für die Leistungsgerechtigkeit hingegen sollte die Privatwirtschaft sorgen. Wer mehr leistet und damit mehr an die arbeitsteilige Wertschöpfung beiträgt, bekommt auch mehr vom gemeinsam erwirtschaf- teten Kuchen. Die Wirtschaft hat während Jahrzehnten gut mit den Gewerkschaften zusammengearbeitet. Diese Zeiten funktionierten nach der Logik «Wenn es allen gut geht, dann geht es denen oben gut». In den 80er-Jahren betrug das Lohnspreiz-Verhältnis in der Schweiz 1:6, in den 90er-Jahren belief es sich auf 1:13 – und heute stehen wir bei 1:43! Das ist erschütternd. Niemand leistet 43 Mal mehr als jemand anderes. Niemand! Die Wirtschaft versagt also zunehmend dabei, die ihr zugeteilte Aufgabe, nämlich die Herstellung von Leistungsgerechtigkeit, zu erfüllen. Dies nennt man Marktversagen.
Wo auch immer Marktversagen vorliegt – so der Konsens – muss die Politik eingreifen. Genau dieser Logik folgt die 1:12-Initiative. Wir haben uns inzwischen meilenweit von einer Leistungsgesellschaft entfernt und sind zu einer Privilegiengesellschaft zurückgekehrt. Dies und die Lohnexzesse des letzten Jahrzehnts machen die 1:12-Initiative nötig. Die Prämissen haben sich allmählich geändert: «Wenn es denen oben gut geht, dann geht es allen gut». Das ist natürlich Unsinn. Erst wenn die Angestellten die von ihnen hergestellten Produkte und Dienstleitungen auch selber kaufen können, floriert die Wirtschaft und kann sich ein breiter Mittelstand bilden. Zur Stärkung der Kaufkraft muss die Lohnsumme deshalb nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen ausgeglichener verteilt werden.
Das Erfolgsmodell der Schweiz war immer der Ausgleich. Mit einem Ja zur 1:12-Initiative stellen wir die Basis für den Erfolg wieder her, den wir bis in die 90er-Jahre hatten.