Der SP falle eine historische Aufgabe zu, schrieb Philipp Loser am 21. März im «Tages-Anzeiger», nur sie könne ein Gegengewicht zum Nationalkonservatismus der SVP schaffen. Mit einer klaren Botschaft, mit einer klaren Mission. Will heissen: Mit einem klaren Ja zu Europa.
Diese Botschaft steht seit fünf Jahren in unserem Parteiprogramm – es ist die Option EU-Beitritt. Wir scheinen sie vergessen zu haben – aus Angst. Das jedenfalls unterstellt der zitierte Kommentator: Wir hätten, fährt Loser fort, Angst vor dem Wähler – ausgerechnet! Die Wählerin ihrerseits, so fürchten wir, hat Angst vor allem Fremden im Allgemeinen und dem Brüsseler Bürokratie-Moloch im Besonderen. Diese Angst wiederum wird von unserem politischen Gegner eifrig und erfolgreich geschürt. Angst aber ist – wir alle wissen es – von allen Ratgebern der schlechteste. Wir sollten Mut machen und all jene ermuntern, die schweigend darauf warten, dass endlich jemand dieses Land aus seinem isolationistischen Dornröschenschlaf weckt und zum Aufbruch bläst – auf nach Europa! Es könnte sich ja erweisen, dass im Verborgenen ein mehrheitsfähiges Wähler-potenzial schlummert – und die ganze Angst unberechtigt war.
Der 9. Februar war ein Schock. Ewig gestrige Angst-Prediger haben Angsthasen mobilisiert, die eine einwandernde Gefahr fürchten. Aber diese hauchdünne und gerade deshalb so schmerzhaftere Niederlage hat auch einen positiven Aspekt:
Sie öffnet uns die Augen und macht deutlich, dass die Zeit des bangen Zauderns vorbei ist. Jetzt ist Klarheit angesagt. Und Mut.
Wir müssen den Mut aufbringen, unsere heiligen Kühe zur Schlachtbank zu führen – eine nach der anderen. Einst war das exklusive Männer- beziehungsweise verweigerte Frauenstimmrecht eine heilige Kuh, sie hat viel zu lange überlebt und ruht zum Glück auf dem Friedhof der Geschichte. Auch der Finanzplatz mit seinem unsäglichen Bankgeheimnis war bis vor kurzem heilig und unantastbar; ein goldenes Kalb sozusagen, das von fremden Richtern verurteilt und von fremden Metzgern notgeschlachtet werden musste. Dasselbe Schicksal hat, geboren diesmal aus der durchaus berechtigten Angst vor einem nuklearen Gau, unterdessen auch die Atomenergie ereilt – noch so eine heilige Kuh.
Auch die Schweizer Armee, die heiligste aller Kühe in Helvetias Herde, hat angesichts der geopolitischen Sicherheitslage ausgedient: Faktisch steht die allgemeine Wehrdienst-pflicht nur noch auf dem Papier, sie metzget sich von selbst. Wenn wir Frieden sichern wollen, müssen wir keine schwedischen Flugzeuge kaufen. Wir müssen Grenzen öffnen – und uns ein Beispiel an der europäischen Idee nehmen, die aus dem Trauma von zwei Weltkriegen geboren wurde: Seit siebzig Jahren lösen die Mitglieder der EU ihre Probleme ohne Waffengewalt. Europa ist zuallererst ein grosses erfolgreiches Friedensprojekt.
Nach seiner jüngsten Kollegenschelte führt der Verteidigungsminister seine heilige Kuh gleich selbst zum Schlachthof: Die sogenannt immerwährende Neutralität muss neu angedacht werden, sie darf nicht länger Potentaten und Diktatoren mit ihren schwarzen Konten schützen und unsere Diplomaten zu Duckmäusern degradieren.
Und jetzt ist die Zeit reif für die nächste heilige Kuh – sie heisst Alleingang und darf getrost den Gang zum Metzger antreten. Wir wollen das schwarze Loch in der Mitte des Kontinents schliessen, uns von heiligen Kühen trennen und uns dafür klar und unmissverständlich zum europäischen Stier bekennen – und, ja, auch zur Heimat, zu einer Heimat, die nicht an nationalen Grenzen endet: Sie reicht vom Nordkap bis zur Küste von Lampedusa, vom Ural bis zum Atlantik. Und wenn ihr mich fragt: Es ist die Natur, der ganze Planet, der mir und euch und allen Menschen Heimat ist.
Die Zeit ist reif, weil wir endlich wieder glaubwürdig werden und zu den Grundwerten der Sozialdemokratie stehen müssen – zu Werten, die heiliger sind als alle Rindviecher; sie heissen Toleranz, Friedenssicherung, Mitmenschlichkeit – und vor allem Solidarität.
Die Solidarität, die wir auch am kommenden 1. Mai wieder lauthals hochleben lassen werden, bleibt eine Parole ohne Inhalt, wenn wir die Menschen, die eine dramatische Reise übers Meer überlebt haben, als Problem definieren, mit dem wir unsere Nachbarn alleine lassen, ein Problem auch, dass wir gerne buchstäblich abschieben. Solidarität üben heisst mitbestimmen und beratend beistehen. Als vollwertiges EU-Mitglied opfern wir vielleicht ein Mü an Eigenständigkeit, der Profit jedoch, den wir daraus ziehen, ist auf wirtschaftlicher und vor allem gesellschaftspolitischer Ebene sehr viel lukrativer als jedes bilaterale Verhandlungsresultat. Denn wir haben mehr zu bieten als wirtschaftliches Wachstum und politische Stabilität; wir können auch Vorbild sein und unser politi-sches System einbringen. Den Beamten in Brüssel, die eifrig jene sozialen Errungen-schaften anstreben, auf die wir zu Recht stolz sind, können wir sagen: So geht Demokratie!
Vor allem aber heisst Solidarität Anteil nehmen, die Armut mindestens so energisch bekämpfen wie den unanständigen Reichtum eines überbordenden Raubtierkapitalismus. Kurz: Solidarität – und ihr verzeiht mir, wenn ich jetzt einen mehr romantischen als politischen Begriff einbringe – ist gelebte Liebe.
Ja! Mit Ausrufzeichen! Mit viel Herzblut schreibt die Sozialdemokratie das Wort Solidarität auf ihre Fahnen. Und unsere Partei schmückt ihr Label mit den beiden grossen Buchstaben auf dem roten Würfel. Endlich habe ich begriffen, was das bedeutet:
Der Würfel ist gefallen – er sagt JA zu Europa.