Unter dem provokanten Titel «Schweizerische Neutralität: immerwährend, flexibel oder anachronistisch?» hat die SP 60+ Kanton Zürich letzte Woche zur Monatsversammlung eingeladen. Jakob Tanner, emeritierter Professor für «Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit» an der Universität Zürich zeigte sich als äusserst kompetenter Referent und Experte für das politisch heikle Thema: mit der richtigen Portion Humor und Schalk in den Augen, wenn es politisch heiss wurde.
Neutralität – am besten die immerwährende, wenn es nach dem Gusto der SVP geht – soll nun in der Bundesverfassung mittels einer Volksinitiative verankert werden. Dabei haben Finnland (2023) und Schweden (2024) nach dem russischen Überfall auf die Ukraine eine entgegengesetzte, für sie (und auch uns?) passende Antwort forciert: Sie gaben die Neutralität auf und sind vorwärtsgewandt der NATO beigetreten. Und die Schweiz?
Die Eidgenossenschaft als «Gigampfi»
Sie hat im Laufe der verschiedenen Jahrhunderte ihre Neutralität immer wieder den entsprechenden Gegebenheiten angepasst. Sie brüstet sich, während der beiden Weltkriege kriegsverschont geblieben zu sein: ein politisches Schweizer-Schaukelpferd zwischen wehrhaftem Widerstand und weitgehender Anpassung bis zum Verrat des Landes ans «Dritte Reich». Das Pendel schwingt hier von «Kämpfer/innen im spanischen Bürgerkrieg» gegen die Faschisten bis zur «Eingabe der 200», welche die Schweiz am liebsten als Vasall der nationalsozialistischen Achsenmächte gesehen hätten. Und noch heute wird der Mythos einer «immer-währenden Neutralität» penetrant zelebriert. Zu dieser nationalen Geschichtsbewusstseins-Trübung passt auch die Hellebarde als rückwärtsgewandte Waffe: gegen moderne Drohnen? Aber eben: Wer erzählt da welche Geschichte mit welchem Interessenshintergrund; ich meine ganz nach dem Motto «Jedem Hellebardchen sein Milliardchen!»
So zitierte Jakob Tanner an dieser Stelle das Cabaret Cornichon, welches 1942 mit seinem Text «Gigampfe» die Schweizer Neutralität auf den Punkt brachte:
Schweige still, oh Eidgenosse, und hab ja nicht eine Grosse, finde immer schön das Ränkli, zwischen Ehrlichkeit und Fränkli!
Wer steht denn da im Schilf?
Zur abschliessenden und sehr rege benutzten Diskussion unter den über 60 Teilnehmenden animierte die Schluss-Frage des Referenten:
Kann sich ein Land gegenüber einem anderen, das völkerrechtswidrig – unter flagranter Verletzung der UN-Gewaltverbots – angegriffen wurde, neutral verhalten?
Und damit steht die bisherige Haltung der «neutralen» Schweiz im Ukraine-Konflikt nach Meinung vieler – nicht nur auf der politisch linken Seite – im Schilf. Und auch die SP-60+ will die offizielle Haltung der Schweiz nicht als offiziös gelten lassen. Im Klartext: das Schweizer Volk muss in seiner (hoffentlich klaren) Mehrheit endlich die Weichen so stellen, dass der Zug der Ewig-Gestrigen nachhaltig entgleist.
Stichworte sind 10-Millionen-Schweiz, Bilaterale Verträge III und 200 Franken sind genug (SRG-Initiative).
Fazit: wer dabei war, kam nicht nur in den Genuss einer überaus interessanten Geschichtslektion punkto Neutralität von den Helvetiern über den Schwur der drei Eidgenossen im Mittelalter, an Marignano 1515 vorbei bis heute, sondern wurde auch für die anstehenden wichtigen Entscheidungen in unserem Land zusätzlich mit viel Wissen gebrieft.
Marcel Burlet (Vorstand SP60+ZH), Watt